"Das ewige Lied" - aus dem Kapitel "Moorkrätschen"
Auf der Suche nach den Kristallen
erreichen Jayel und Daphnus zusammen mit dem Aquanten Kallabul und
dem Erdmenschen Tiark das Reich der Elfen. Dort erfahren sie, dass
deren Kristall und seine Hüterin Murja im Moor verschollen
sind, durch die Schuld der jungen Gemma. Sie machen sich auf die
Suche. Im Moor treffen sie auf die gefährlichen Moorkrätschen.
Die Gruppe hatte
sich gerade erschöpft vom Marschieren auf dem unebenen Boden auf
einem der braunen Hügel niedergelassen, da diese immerhin festen
Untergrund für die Pferde boten. Gemma und Daphnus waren gerade
dabei, ein Feuer zu entzünden, während sich Tiark, Kallabul und
Jayel um die Pferde kümmerten. Plötzlich hörten sie schreckliche
Schreie aus südlicher Richtung.
Jayel hob den Kopf und sah
vier Wesen hoch oben durch die Luft auf sie zukommen. Von ihnen
stammten die Geräusche: schrille Schreie, wie von sterbenden Vögeln.
Die Wesen selbst hatten die Flügel und die Beine von Vögeln, dabei
aber Leib und Kopf, die eher Wölfen glichen. Nie zuvor hatte Jayel
Tiere von solcher Scheußlichkeit gesehen. „Moorkrätschen!“
schrie Gemma schrill auf, „Wir sind verloren!“ „Reiß dich
zusammen, Mädchen!“ schrie Tiark, zog seine Keule aus der
Satteltasche und sprang auf Wirbelwind, damit er höher stand,
„Solange wir noch kämpfen können, sind wir auch nicht verloren.
Überleg lieber mal, ob du irgendwelchen Priesterschnickschnack gegen
die Viecher gebrauchen kannst.“
Das wirkte offenbar, denn
Gemma verfiel in fieberhaftes Grübeln. Daphnus hatte bereits die
Augen geschlossen und murmelte vor sich hin, während Kallabul aus
seiner Manteltasche zwei bläulich schimmernde Glaskügelchen
hervorgeholt hatte. Jayel entschied sich, ihn später nach deren
Funktion zu fragen und hob die Arme. Sie betete zu Lyria, obwohl sie
keine Ahnung hatte, welche priesterliche Magie ihr gegen solche
Kreaturen helfen sollte. Da schossen aus ihren Fingerspitzen
helle Strahlen hervor, die sich in der Luft zu einem Netz verwoben
und zwei der inzwischen gefährlich nahe gekommenen Krätschen
umwickelten.
„Ein Netzzauber“ murmelte Jayel, erleichtert
darüber, dass ihre Intuition den richtigen Zauber gewählt hatte.
Sie beobachtete, wie die Krätschen laut schreiend und wild mit den
Flügeln schlagend nicht weit von ihnen ins Moor fielen. Der Boden
unter ihnen blubberte, und langsam begannen die gefangenen Monster zu
versinken.
Jayel wandte den Blick ab, gerade rechtzeitig, um
sich mit einem Hechtsprung vor einer zugreifenden Klaue in Sicherheit
zu bringen. Gemma schrie auf und fuchtelte erschrocken mit ihren
Armen – was zur Folge hatte, dass eine winzige, grüne Dampfwolke
über der Krätsche erschien. Diese jedoch stieg rasch wieder auf und
ließ die grüne Wolke hinter sich zurück. Etwa zehn Schritt über
dem Boden machte die Krätsche kehrt.
In der Zwischenzeit
hatte Tiark alle Hände voll zu tun mit der vierten Krätsche. Seine
Steinkeule hatte die Kreatur zwar schon mehrfach hart getroffen, doch
der Erdmensch war den Kampf zu Pferde nicht gewohnt, zudem Wirbelwind
immer nervöser ob der Bestie über ihr wurde. Schließlich kam es,
wie es kommen musste: Wirbelwind bäumte sich auf und Tiark stürzte
in hohem Bogen von der Fuchsstute herunter.
Die andere
Krätsche hatte es mittlerweile geschafft, in der Luft zu wenden, und
stürzte sich erneut auf Jayel. Die riss Rapier und Stilett aus den
Scheiden, wohl wissend, dass sie mit solch schmalen Klingen einem
Ungetüm wie diesem gerade einmal Kratzer verpassen konnte.
Trotzdem blickte sie ihrem Gegner mutig entgegen – doch dann musste
sie geblendet die Augen schließen. Plötzlich war die Krätsche in
einen lodernden Feuerball gehüllt, dessen Hitze bis zu Jayel
deutlich spürbar war. Gequält schrie das Monster auf und erhob sich
wieder in die Luft. Es flog in wilder Panik davon, doch hinter dem
nächsten Hügel stürzte es ab. Jayel sah keuchend neben sich; es
war Daphnus gewesen, der die Krätsche mit einem Feuerball
aufgehalten hatte.
Tiarks Moorkrätsche stürzte sich derweil
auf die ängstlich wiehernde Wirbelwind. „Oho!“ rief Tiark wütend
und sprang auf, „Lässt du wohl mein Riesenschaf in Ruhe, du
Mistvieh!“ Mit einem kräftigen Schlag trieb er die Krätsche von
dem Pferd weg. Zweimal noch schlug er zu – dann lag die
Moorkrätsche verendend zu seinen Füßen. „Wenn jemand das
Riesenschaf frisst, dann bin ich das!“ knurrte Tiark und sah wütend
auf die Krätsche herab.
Jayel wollte schon erleichtert
aufatmen, da schrie Gemma erneut auf. Unbemerkt hatte sich eine der
beiden gefesselten Moorkrätschen aus dem Netz befreit und war näher
gekommen. Nun setzte sie gerade zum Sturzflug auf den scheinbar
unbewaffneten Kallabul an. Dieser blickte auf und erkannte die Gefahr
gerade noch rechtzeitig. Rasch hob er die Hand und warf die zwei
Glaskugel auf das herabstürzende Ungetüm. Die dünnen Glaswände
der Kugeln zerbrachen, und eine durchsichtige Flüssigkeit spritzte
über die Haut des Tieres. Wo sie auftraf, verbreiteten sich sofort
rötliche Blasen, und die Krätsche schrie gequält auf. Wie rasend
erhob sie sich wieder in die Luft und taumelte unter lauten Schreien
davon.
Jayel starrte ihr mit offenem Mund hinterher. Auch die
anderen folgten dem davoneilenden Monster mit den Blicken und wandten
dann Kallabul große, erstaunte Augen zu. Der Aquant grinste
entschuldigend: „Leichte Säure. Wird noch ein wenig weh tun, aber
morgen ist die Krätsche wieder in Ordnung...“
Jayel sah
sich um. Zwei Moorkrätschen waren tot: die eine lag zu Tiarks Füßen,
die andere versank im Sumpf. Eine weitere verschwunden, nachdem sie
Daphnus Feuerball getroffen hatte, und die vierte Richtung Süden
davongeflogen...
"Leuchte - Ein historischer Mystery-Krimi aus dem Kinzigtal"
Kapitel 1: Wildwechsel Die
Glocken der Marienkirche schlugen Mitternacht, als Lisa, das Leinenbündel eng
an sich gepresst, über den Obermarkt eilte. Für Mitte Oktober war es recht kühl.
Vor Lisas Mund bildete ihr Atem kleine Wölkchen. Besorgt
blickte sie zum Himmel hinauf und zog ihr Schultertuch fröstelnd über ihrem
Jäckchen zusammen. Es würde noch kälter werden – schon jetzt war das Pflaster
unter ihren Schuhen schlüpfrig.
Plötzlich legte sich eine Hand auf ihre Schulter. Die
20-Jährige fuhr mit einem erschrockenen Aufschrei herum. Vor ihr stand ein
junger Mann in der Uniform der französischen Soldaten und grinste sie an.
„Herrgott, Christoph, du hast mich zu Tode erschreckt“, fauchte Lisa.
Der Uniformierte lachte: „Ich wusste gar nicht, dass du
so ein Angsthase bist. Ich wollte dich nur fragen, ob ich dich bis zum
Parkplatz begleiten soll.“
Die beiden schlenderten nebeneinander die steilen Gassen
von Gelnhausen hinunter und besprachen die hinter ihnen liegenden
Gästeführungen. Beide hatten als Statisten in der selben Gruppe mitgewirkt –
einer Stadtführung, bei der die Gäste in die Zeit der französischen
Revolutionskriege eingetaucht waren. Doch während Christoph bereits ein ‚richtiger‘
Gästeführer war und lediglich dieses Mal keine Zeit gehabt hatte, um selbst
eine Gruppe zu leiten, befand sich Lisa noch in der ‚Ausbildung‘ und besuchte
regelmäßig Kurse. Für die Germanistikstudentin war das nicht nur ein angenehmer
Ausgleich und ein schönes Hobby, sondern auch eine sinnvolle Ergänzung für ihr
Studium, in dem sie sich mit Literatur ab der Frühen Neuzeit befasste.
„Ich kann es nicht leiden, wenn während der Führung die
Handys klingeln“, beschwerte sich Lisa. „Ich meine: Können die Leute die blöden
Dinger nicht mal für zwei Stunden ausmachen? Wir versuchen hier, die Leute so
authentisch wie möglich in die Vergangenheit zu entführen und die nehmen kein
bisschen Rücksicht.“
Christoph lachte: „Daran wirst du dich gewöhnen müssen.
Im Kino gibt es schließlich auch immer irgend einen Idioten, der so wichtig
ist, dass er sein Telefon unbedingt anlassen muss.“
„Wir machen unsere ja schließlich auch aus“, maulte Lisa.
Christoph schüttelte den Kopf. „Na klar, wenn uns
Christine mit eingeschaltetem Handy erwischen würde, wären wir ja selbst bald
Vergangenheit.“ Die beiden lachten. Christine, ihre Ausbilderin, war für ihre
Liebe zum Detail bekannt. Ihr war es auch zu verdanken, dass die Kostüme der
Gästeführer so originalgetreu wie möglich gehalten wurden. Lisa erinnerte sich
noch lebhaft daran, wie ihr Kostüm – das einer Magd des 18. Jahrhunderts –
entstanden war. Es war dem Gemälde „Das Schokoladenmädchen“ von Etienne Liotard
aus dem Jahr 1744 nachempfunden. Das Bildnis eines typischen Dienstmädchens. Zu
dem Kostüm gehörten ein Rock, ein Jäckchen und eine Haube aus schwarzblauem
Seidentaft. Dazu hatte die Schneiderin für Lisa ein Schultertuch und eine
Schürze aus Baumwolle gefertigt. Darunter trug Lisa ein langes Unterkleid aus
Baumwolle, Chemise genannt, sowie ein Korsett und einen Unterrock. Das Kostüm
war handgenäht worden nach den Techniken des 18. Jahrhunderts. Die Schürze
wurde mit Stecknadeln am Oberteil befestigt. Nicht nur Schnitt und Stoff, auch
die Farbgebung war genauestens kontrolliert worden. Lisa, die gerade im zweiten
Semester war und auch ihre Gästeführer-Ausbildung erst vor wenigen Wochen
begonnen hatte, fand es faszinierend, auf diese Weise mehr über die vergangenen
Jahrhunderte zu erfahren.
Am Parkplatz am Grimmelshausen-Gymnasium angekommen, gab
ihr Christoph einen freundschaftlichen Klaps. „Fahr vorsichtig“, mahnte er, „es
soll heute Nacht Nebel und Bodenfrost geben.“ Lisa schauderte in ihrem Kostüm.
Normalerweise hätte sie sich in den Räumen der Tourist-Information umgezogen,
bevor sie nach Hause gefahren wäre. Doch heute hatte sie beschlossen, keine
Zeit zu verschwenden. Sie war müde und musste am nächsten Tag ein Referat halten.
Außerdem brauchte sie das Kostüm dafür. Eine alberne Idee ihrer Kommilitonin,
das Goethe-Referat in zeitgemäßer Kleidung vorzutragen – aber bei ihrer
Professorin würde es vielleicht Eindruck schinden.
„Ich hoffe, dass mich auf dem Weg nach Hause kein
Polizist anhält. Der würde doch glatt denken, ich wäre aus der Klappse
entsprungen“, prophezeite Lisa düster.
Christoph lachte: „Naja, wo sollten denn zwischen hier
und Hammersbach Polizeikontrollen sein? Und selbst wenn, hast du zumindest den
Überraschungseffekt auf deiner Seite.“
„Ha, ha, ha“, machte Lisa und schloss ihren roten,
uralten Ford Fiesta auf. Das Leinenbündel, in dem ihre Jeans und ihr Pullover
eingeschlagen waren, verstaute sie auf dem Rücksitz und rief Christoph ein
spöttisches: „Au revoir, mon ami“ zu. Der junge Mann winkte und machte sich auf
den Weg Richtung Unterstadt.
Die Straßen waren um diese Uhrzeit frei. Lediglich in
Gründau traf Lisa auf ein paar Nachtschwärmer. Bei ihrem Weg über den
Baumwieserhof Richtung Hüttengesäß war sie allein. Nur der Vollmond begleitete
ihre Fahrt – und ein schreckliches Radioprogramm, das einen Charttitel nach dem
anderen herunter dudelte. Die Radiomoderatorin schien ebenso davon gelangweilt
wie Lisa, zumindest ihrer Stimmlage nach zu urteilen. Lisa hoffte, dass ihre
Eltern bereits im Bett waren. Ihre Mutter blieb oft auf, wenn es bei Lisa
später wurde, doch die Studentin sah das nicht gerne. Sie wollte nicht, dass
ihre Mutter ihretwegen in Sorge war, vor allem, seit sie in Frankfurt
studierte. Vielleicht wäre es besser, zu Hause auszuziehen, aber das konnte sie
sich nicht leisten. Außerdem mochte sie ihre kleine Wohnung in dem alten Haus.
Es gehörte zwar nicht zu den wunderschönen Fachwerkhäusern im Ortskern von
Marköbel, aber es war ebenfalls sehr alt. Ihr Urgroßvater hatte es gebaut.
„Und jetzt ein Hit der 90er Jahre von den Backstreet
Boys“, tönte die Radiomoderatorin, als Lisas Auto den Hüttengesäßer Wald
erreichte.
„Oh, bitte nicht!“, stöhnte Lisa.
Im Wald war es stockfinster – nur die Scheinwerfer
schnitten eine schmale Spur aus Licht in die Dunkelheit und beleuchteten die
asphaltierte Straße. Tatsächlich zog nun, wie von Christoph angekündigt,
leichter Nebel auf, so dass Lisa auf die Bremse trat und ihre Fahrt
verlangsamte.
„Na toll“, knurrte die junge Frau, während die Boygroup
zu singen begann. Die eine Hand am Steuer und die Augen auf die Fahrbahn gerichtet,
begann Lisa in der Ablage zu wühlen. Irgendwo musste eine alte CD von Depeche
Mode herumliegen – alles war besser als diese Radio-Folter. Ihre tastenden
Finger fanden allerdings keine CD-Hülle. Genervt sah Lisa zur Beifahrerseite.
Die CD lag im Fußraum. Lisa warf noch einen Blick auf die Straße und bückte
sich rasch, um die Plastikhülle zu angeln. Ihre Fingerspitzen griffen die CD. Mit
einem triumphierenden „Ha!“ richtete sich Lisa wieder auf und sah auf die
Straße. Wenige Meter vor ihrem Auto stand im Scheinwerferkegel ein Reh und
blinzelte verwundert.
„Oh, Mist!“, schrie Lisa und trat auf die Bremse. Ein
schrilles Quietschen tönte durch den nächtlichen Wald, als der Gummi auf dem
Straßenbelag abrieb. Lisa bemühte sich, das Lenkrad festzuhalten, doch der
kleine Ford geriet ins Schleudern. Die junge Frau schrie, als sich das Auto zu
drehen begann und mit dem scheußlichen Geräusch von berstendem Metall und
splitterndem Glas gegen den nächsten Baum prallte.
Für einige Minuten war es still, während das Reh
gemächlich in den Wald trottete. Dann öffnete sich die Fahrertür des Fiesta und
Lisa kletterte aus dem, was von ihrem Auto übrig geblieben war. Sie betrachtete
das Wrack. Der rote Fiesta war mit der Beifahrerseite gegen den Baum gestoßen
und hatte vermutlich nicht einmal mehr Schrottwert. „Mist!“, wiederholte Lisa
aus vollem Herzen und rieb sich bekümmert die Stirn. Wie durch ein Wunder war
sie offenbar kaum verletzt – lediglich eine breite Schramme verlief auf ihrer
rechten Wange, und ihr Arm war offenbar geprellt, denn er schmerzte höllisch.
Vermutlich würde er für einige Tage in Blau- und Grüntönen leuchten. Lisa
beugte sich über den Fahrersitz und griff nach ihrer Handtasche. Sie angelte
ihr Handy heraus und schaltete es an. Sie überlegte krampfhaft, wie sie ihrer
Mutter möglichst schonend beibringen sollte, dass sich ihre schlimmsten
Befürchtungen erfüllt hatten und ihre Tochter mitten in der Nacht allein im
Wald vor den Überresten ihres Autos stand.
„Mama, zuerst die gute Nachricht: Ich lebe noch“,
improvisierte sie, während sie auf das Display ihres Mobiltelefons starrte und
darauf wartete, dass es die Eingabe ihrer Geheimnummer von ihr forderte. Leider
kam stattdessen ein anderes Symbol: Bitte Akku laden. Lisa starrte ihr Handy
an, blickte zu ihrem Auto und auf die Straße. Hier würde so schnell niemand
vorbeikommen.
„Verdammt,
verdammt, Mistmistmist“, murmelte sie. Sie schlug die Autotür zu und wollte
gerade das Auto abschließen, als ihr klar wurde, wie unnütz das gewesen wäre.
Seufzend warf sie den Autoschlüssel durch die geborstene Windschutzscheibe ins
Innere des Wagens und ging Richtung Straße. Es würde ihr wohl nichts anderes
übrig bleiben, als zu laufen.
Lisa musste ein Stückchen den Hang hinauf klettern – das
Auto war auf seiner vermutlich letzten Fahrt eine kleine Böschung hinunter gerast.
Der Waldboden war trotz der Kälte matschig, begann gerade, an der Oberfläche zu
verhärten. Lisa war dankbar für das Mondlicht, das durch die Baumkronen
spärlich auf die Straße fiel und den Wald in diffuses, unheimliches Licht
tauchte. Zwischen den Bäumen hingen leichte Nebelfetzen und verstärkten den
unwirklichen Eindruck. Lisa begann ihren Weg die kurvige Straße hinab. Doch
nach wenigen Metern blieb sie stehen. Die Straße machte eine große Kurve nach
links und verschwand zwischen den Bäumen. Lisa war diesen Weg nach Hause
bereits Hunderte Male gefahren. Ihr wurde bewusst, dass sie zu Fuß noch eine
ganze Weile unterwegs sein würde – mindestens eine, wenn nicht zwei Stunden.
Ratlos blickte sie ins Dunkel des Waldes. Würde sie, statt der Straße zu
folgen, den Weg querfeldein zwischen den Bäumen einschlagen, wäre dies der
direkte Weg ins Dorf. Und sie wäre bestimmt schneller. Nach kurzem Zögern
betrat Lisa den Waldboden. Ihre Mutter würde sie umbringen, wenn sie nicht so
schnell wie möglich nach Hause kam.
Die junge Frau kam zunächst gut voran. Der Boden wurde
zunehmend härter, die Luft kälter. Lisa setzte, obwohl sie sich etwas albern
vorkam, die altertümliche Haube auf, die sie in ihrer Schürze stecken hatte. Normalerweise
setzte sie die Kopfbedeckung nach den Führungen so schnell wie möglich ab –
nach dem Mieder war die Haube ihrer Ansicht nach eines der schlimmsten
Folterinstrumente, die je für Frauen erdacht worden waren –, aber angesichts
der Kälte war ihr jedes Mittel recht, um ihre Ohren warm zu halten. Je kälter
es wurde, desto dichter wurde auch der Nebel. Bald konnte Lisa keine zwei Meter
weit sehen, und sie musste sehr langsam gehen und ihre Arme vorstrecken, um
nicht gegen Bäume oder Sträucher zu laufen.
„Na, wunderbar“, zischte Lisa und stieß einen deftigen
Fluch aus. Sie hätte sich ohrfeigen können, weil sie nicht auf der Straße
geblieben war. In dem dichten Nebel war sie viel langsamer, als sie es auf dem
Asphalt gewesen wäre. Doch nach einer Weile begann der Nebel, sich zu lichten.
Lisa seufzte erleichtert und schritt schneller voran. Sie war sicher, immer
geradeaus gelaufen zu sein, also musste sie bald wieder auf die Straße treffen.
Lisa hielt jedoch vergeblich Ausschau nach einem asphaltierten Streifen. Sie
verlangsamte ihre Schritte und blickte sich um. Konnte nicht genau sagen, woran
es lag, doch irgendwie erschien ihr der Wald verändert. Düsterer und wilder.
Lisa schalt sich selbst einen Narren: „Dumme Pute, hast
du Angst vor der Dunkelheit?“ Doch als die Straße verschwunden blieb, bekam es Lisa
mit der Angst zu tun. Sie lief schneller und begann, in ihrer aufsteigenden
Panik über Wurzeln und herabgefallene Äste zu stolpern. Plötzlich wurde es
dunkel. Lisa keuchte angsterfüllt auf, bevor ihr bewusst wurde, dass eine Wolke
den Mond verdeckte – zumindest konnte sie den Vollmond nicht mehr sehen. Sie
blieb stehen. Verzweifelt sah sie sich um, blinzelte in die Dunkelheit.
Plötzlich schimmerte ein Licht durch die Bäume – ein fahler Schein, der mal heller,
mal dunkler zu werden schien. Scheinwerfer, dachte Lisa. Erleichterung überkam
sie. Dort musste die Straße sein. Sie ging langsam weiter. Doch das Licht
irritierte sie. Mal flackerte es auf, mal schien es zu verlöschen. Einmal
dachte Lisa, sie hätte sich das Licht nur eingebildet, doch dann leuchtete es
erneut in einiger Entfernung vor ihr auf.
Unbeholfen machte Lisa einen weiteren Schritt nach vorne.
Plötzlich gab der Boden unter ihr nach, und mit einem entsetzten Aufschrei stürzte
sie.
Sie fiel nicht sehr tief – offenbar war sie über den Rand
eines Abhangs getreten –, schlug auf abschüssigem Boden auf und begann, hilflos
weiter zu rutschen und zu rollen. Verzweifelt versuchte sie, irgendwo Halt zu
finden, doch ihre Hände ertasteten nur vorbeifliegendes Gras und Erde. Abrupt
endete Lisas Sturz, als sie hart auf aufschlug. Der Aufprall trieb ihr die Luft
aus den Lungen. Keuchend vor Schmerz blieb sie auf der Seite liegen.
Genau in diesem Moment riss die Wolkendecke auf und
bleicher Sternenschein erhellte den Wald. Lisa starrte in die blicklosen Augen
einer Leiche.
Gebannt sah Lisa in das schöne tote Gesicht. Es war eine
junge Frau, die nur wenige Zentimeter vor ihr auf dem Waldboden lag,
zusammengekrümmt auf der Seite – beinahe
wie ein bizarres Spiegelbild von Lisa. Die Frau war auch im Tode sehr hübsch,
wie Lisa seltsam distanziert bemerkte. Ebenholzschwarze Haare flossen lang über
ihre Wangen und bedeckten wie ein Schleier den Waldboden. Die blutroten Lippen
waren leicht geöffnet. Die haselnussbraunen Augen, in deren Weiß kleine rote
Punkte glänzten, waren von dichten Wimpern umkränzt. Auf ihrem Gesicht lag ein
fast erstaunter Ausdruck, als wäre der Tod eine Überraschung für sie gewesen.
Ihre porzellanweiße Haut war makellos – bis auf die blau-roten Male, die sich
fast überdeutlich am weißen Hals der Toten abzeichneten.
Erst jetzt begann
Lisa zu schreien. Sie sprang auf die Füße, trotz des üblen Stechens in ihren
Rippen. Mit aufsteigender Verwirrung fragte sie sich, warum die Tote ebenfalls
ein historisches Kostüm trug – eine blaue Robe à la Polonaise, wie sie im
späten 18. Jahrhundert modern gewesen war. Das körpernah geschnittene Oberteil
war aufgerissen, so dass die bleichen Brüste der Frau bloß lagen. Rock,
Unterrock und Chemise waren hochgeschoben.
Lisa blickte sich wild um – war der Mörder etwa noch in
der Nähe?
In diesem Moment zog sich die Wolkendecke wieder zusammen
– Lisa konnte den Mond noch immer nicht ausmachen – und eine dunkle Gestalt
trat hinter einem der Bäume hervor. Sie erstarrte.
Lautlos bewegte sich die Gestalt im unheimlichen
Zwielicht auf Lisa zu. Es war ein Mann. Etwa zwei Köpfe größer und von breiter
Statur. Plötzlich packte er blitzschnell mit einer Hand Lisas linkes
Handgelenk, zog sie zu sich heran und umfasste mit der anderen Hand ihre Kehle.
Lisa keuchte erschrocken auf. Sie begann, mit ihrer freien Hand auf seine Brust einzuschlagen. Das Hemd des Fremden
zerriss mit einem hässlichen Geräusch, doch er ließ sich davon nicht beeindrucken.
Sehen konnte sie sein Gesicht noch immer nicht, denn der wolkenverhangene
Himmel sorgte dafür, dass die Nacht so schwarz wie die Hölle blieb. Der Angreifer
packte fester zu, drückte Lisa mit dem Rücken gegen einen Felsbrocken und presste
sie mit seinem Körpergewicht dagegen. Er war ihr so nah, dass sie seinen heißen
Atem auf ihrem Gesicht spüren, mit der Hand die Haare auf seiner Brust fühlen
und eine seltsame Geschwulst – eine Narbe? – an seinem Rippenbogen ertasten
konnte. Nun nahm er beide Hände, um ihr die Kehle zuzudrücken. Lisa röchelte vor
Schmerzen. Rote Nebel stiegen vor ihren Augen auf. Instinktiv handelte sie so,
wie sie es vor Jahren in einem Selbstverteidigungskurs gelernt hatte: Sie
tastete nach dem Gesicht des Mannes, suchte seine verwundbaren Stellen – seine
Augen. Sie rammte ihre Fingerspitzen hinein. Um ihm ernsthaft Schaden
zuzufügen, fehlte ihr die Kraft, aber der Mann brüllte überrascht und
schmerzerfüllt auf und ließ sie los. Lisa japste nach Luft, riss ihr Knie in
die Höhe und traf den Angreifer zwischen den Beinen. Er gab gurgelnde Geräusche
von sich und ging zu Boden.
Lisa rannte los, doch nach zwei Schritten stolperte sie
in der Finsternis über die Leiche und stürzte zu Boden. „Shit“, fluchte sie und
rappelte sich wieder auf. Lisa konnte in der Finsternis noch immer nicht
besonders gut sehen, doch zumindest erkannte sie vage die Umrisse der Bäume und
Sträucher – und den des Mannes, der sich langsam vom Boden erhob. Lisa schrie
erschrocken auf und rannte erneut los. Diesmal konnte sie zwar Hindernissen
ausweichen, doch ihr Kleid verfing sich im Unterholz, und außerdem hatte sie
sich bei ihrem Sturz ihren Knöchel verstaucht. Bei jedem Schritt schoss ihr ein
stechender Schmerz durch das Gelenk. Jedoch reichte das Geräusch des keuchenden
Atems ihres Verfolgers aus, um sie zum Weiterrennen zu motivieren.
Offensichtlich hatte er auch Probleme, voranzukommen – sonst hätte er Lisa
vermutlich längst eingeholt.
Orientierungslos rannte Lisa weiter und meinte erkennen
zu können, dass sich in einiger Entfernung die Bäume lichteten. Endlich ,
dachte sie. Außerhalb des Waldes konnte sie den Angreifer vielleicht abhängen. Auf
der Straße. Und sie schaffte es bis zum Dorf. Oder es kam ein Autofahrer vorbei.
Lisa mobilisierte
ihre Kraftreserven und hielt auf den Waldrand zu. Sie durchbrach das Unterholz
und fand sich auf freiem Feld wieder. Sie hielt kurz an, um sich zu
orientieren. Keine Straße. Keine Lichter. Keine Häuser.
„Verfluchter Mist“, stöhnte die junge Frau und sah sich
hastig um. Nichts zu sehen von ihrem Verfolger, , aber Lisa hörte die
krachenden Geräusche, mit denen er sich durch das Gehölz kämpfte. Auf gut Glück
schlug sie den Weg einen Hügel hinauf ein und rannte, so schnell sie konnte. Angesichts
ihres angeschlagenen Zustandes nicht sehr schnell.
Wo zum Teufel bin ich?, dachte sie, während sie durch
eine Landschaft hetzte, die ihr unbekannt war. Dabei kannte sie die Gegend rund
um Marköbel durch ihre Spaziergänge mit ihrem Hund eigentlich ganz gut. Ob sie
auf der Hüttengesäßer Seite herausgekommen war? Sie blickte sich um. Immer noch
keine Spur von ihrem Verfolger. Rasch verbarg sich Lisa hinter einem nahen
Gebüsch und nutzte die Gelegenheit, um zu Atem zu kommen. Sie hoffte, dass der
Mistkerl ihre Spur verloren hatte. Sie musste so schnell wie möglich die
Polizei benachrichtigen, aber zunächst musste sie herausfinden, wo sie war.
Noch nie hatte sie sich derartig verirrt. Vorsichtig richtete sie sich auf und
warf einen Blick Richtung Wald. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit
gewöhnt, auch wenn der Vollmond verschwunden blieb. Die Landschaft lag bleich
im Sternenlicht da. Niemand war zu sehen. Lisa rang immer noch nach Atem und
stand auf. Da wurde sie von hinten gepackt und grob herum gerissen. Lisa schrie
auf: Der Fremde hatte sie eingeholt und sich von hinten an sie herangeschlichen.
Blindlings stieß sie mit ihrem Kopf zu und traf den Kiefer des Mannes. Er
stöhnte und ließ sie los.
Lisas Kopf dröhnte ebenfalls, doch sie stieß den Kerl von
sich. Spürte, wie ihre Fingernägel über die bloße Haut seiner Brust schrammten
und nutzte den Moment, um erneut zu flüchten: Sie rannte bergab. Plötzlich gab
der Boden unter ihr nach. Etwa vier Meter stürzte sie in die Tiefe, schlug auf
matschigen Grund auf. Verwirrt sah sie sich um: Sie befand sich in einem
offenbar künstlich angelegten Schacht. Die Wände bestanden aus Erde, aber sie
reichten senkrecht in die Höhe. Als Lisas Blicke nach oben wanderten, sah sie
die Gestalt ihres Angreifers, eine schwarze Silhouette vor dem Sternenhimmel.
Sie sah noch, dass der Mann begann, das Loch, in das sie
gestürzt war, abzudecken. Dann wurde ihr schwarz vor Augen.
Tod am Teufelsloch (aus dem Kapitel "Teufelsloch")
Lisa erwachte, weil ihr kühl wurde. Verschlafen
blickte sie zum Himmel. Die Sonne war von Wolken verdeckt worden. Doch es sah
nicht so aus, als würde es zu regnen beginnen, und bestimmt würden die Wolken
bald weiterziehen. Lisa setzte sich auf und zählte gewohnheitsmäßig die Kinder
durch. Sie erschrak. Es waren nur vier. Ferdinand fehlte.
Sie sprang auf die
Füße und sah sich nach dem dunkelblonden Haarschopf um. Er war nirgendwo zu
entdecken. Rasch weckte sie Jonathan.
„Ferdinand ist
weg. Ich will die Herrin nicht beunruhigen, hilf mir suchen.“ Jonathan war
sofort hellwach und auf den Beinen. Er suchte die eine Hälfte der Wiese ab,
Lisa die andere. Ferdinand blieb verschwunden. Schließlich blieb ihnen nichts
anderes übrig, als Dorothea Grimm doch zu wecken, die augenblicklich panisch
die Hände vor den Mund hielt und sie aus angsterfüllten Augen anschaute.
„Bleibt ruhig,
Frau Grimm! Wir finden den Jungen schon“, sagte Jonathan fest und schärfte ihr
ein, mit den anderen Kindern, die nun ebenfalls erwachten und sich ängstlich
umblickten, an Ort und Stelle zu bleiben. „Wir müssen tiefer in den Wald hinein
und ihn rufen.“
Jonathan schickte
Lisa bergan, er selbst ging bergab. Lisa rannte los, zwischen Buchen und Eschen
hindurch, immer wieder Ferdinands Namen rufend. Während ihr Rennen aus
Konditionsgründen bald zu einem schnellen Gehen wurde, suchte sie den Wald
links und rechts nach Anzeichen eines Kleinkindes ab – erfolglos.
Sie machte sich
Vorwürfe. Wie hatte sie bei diesem Teufelsbraten davon ausgehen können, er schlafe
friedlich?
Die Bäume standen
nicht sonderlich dicht, doch der Boden war von Dornengestrüpp überwuchert. „Ein
Königreich für meine Jeans“, murrte Lisa. Wie weit konnte ein Dreijähriger in
diesem unwegsamen Gelände kommen? Vor ihr wurde der Wald lichter, und Lisa
erkannte, dass er sich dort erneut zu einer kleinen Wiese öffnete. Während sie
darauf zuging, hörte sie hinter sich, aus weiter Ferne, Jonathans Stimme:
„Lisa. Ich habe ihn. Komm zurück!“
Lisa blieb stehen,
stützte sich an einem Baumstamm ab und atmete tief durch. Die raue Rinde
drückte sich in ihre Handfläche. „Na Halleluja!“, stieß sie aus, bevor sie rief:
„Ich komme!“ Sie
wollte sich schon umwenden, als sie ein Raunen zu hören glaubte. Es kam von der
Lichtung. Lisa blieb stehen und lauschte. Stille. Hatte sie sich das Geräusch
nur eingebildet? Sie kniff die Augen zusammen. Im hellen Grün des
Frühlingsgrases blitzte etwas Rotes auf.
Da war das
Geräusch wieder – kein wirklicher Ruf, sondern ein wortloses Wispern. Lisa
fühlte, wie sich die Haare in ihrem Nacken aufrichteten. Jede Faser ihres
Körpers schrie danach, sich umzudrehen und zu Jonathan, Dorothea und den
Kindern zurückzurennen. Doch sie tat es nicht. Wie an einem unsichtbaren
Gummiband gezogen bewegte sie sich auf die Lichtung zu.
Als Lisa zwischen
den Bäumen hervortrat, sah sie das Loch. Es sah harmlos aus. Doch dort, in der
Mitte der Lichtung, schien das andere Ende des unsichtbaren Gummibandes zu
verschwinden, das Lisa vorwärts zog. Und von dort kam das wortlose Raunen.
Lisa ging einige
Schritte auf das Loch zu. Es war nicht kreisrund, sondern unregelmäßig geformt
wie ein aufgerissener Schlund.
Aus dem
Augenwinkel sah Lisa etwas im Gras aufblitzen. Sie wandte den Kopf und sah hin.
Und das Gummiband riss. Lisa blieb wie angewurzelt stehen. Etwas Rotes fiel ihr
auf. Das Schockierendste war, dass das Mädchen so jung war. Zwölf, vielleicht dreizehn Jahre alt.
Ein Kind. Wie sie dort im Frühlingsgras lag, die braunen Locken wie einen
Heiligenschein um den Kopf ausgebreitet, dachte Lisa zuerst, sie würde
schlafen, hätte sich zu einem Nickerchen hingelegt, wie sie und die anderen es
auch vor Kurzem getan hatten. Doch man schlief nicht mit offenen Augen. Und
wenn man schlief, atmete man weiter.
Ein
Schrei zerriss die Stille des Waldes. Ein Schwarm Krähen, der in einem Baum
nicht weit entfernt gesessen hatte, flatterte auf und flog davon.
Lisa
bemerkte, dass sie es war, die schrie. Und sie konnte nicht mehr aufhören. Sie
stand nur da, starrte das tote Kind an und schrie. Sie schrie auch noch, als
Jonathan vollkommen außer Atem die Lichtung erreichte. Statt ihm auf seine
verstörte Frage zu antworten, schrie sie weiter. Jonathan folgte ihrem Blick,
und Entsetzen zeichnete sich in seinem Gesicht ab. Erst, als er einen Zipfel
des purpurroten Mantels nahm, auf dem das Kind gebettet lag, und damit die
toten Augen des Mädchens verdeckte, verwandelten sich Lisas Schreie langsam in jammervolle
Schluchzer.